Inga Maria Stalljann im Interview – Einblicke in den Trauerprozess – Zurück in das eigene Leben

Inga Maria Stalljann wurde 1954 in Ludwigshafen am Rhein geboren und wuchs in Hamburg auf. Nach langjähriger klinischer Tätigkeit ließ sie sich zur Heilpraktikerin ausbilden und spezialisierte sich durch eine weitere Ausbildung zur klassischen Homöopathin – 1991 wurde dann die homöopathische Allgemeinarztpraxis in Bad Schwartau (Schleswig-Holstein) eröffnet. Nach diversen Weiterbildungen und langjähriger homöopathisch geriatrischen Tätigkeiten in Alten- und Pflegeheimen gibt Frau Stalljann ihr Wissen als Dozentin für das Thema "Homöopathie und Geriatrie" im deutschsprachigen Raum weiter.
In ihrer Praxis bietet Frau Stalljann neben der individuellen Behandlung Hinterbliebener auch Kurse für diese an. Besonders für Menschen, die nach dem Verlust eines geliebten Angehörigen – auch nach langer Zeit noch – Probleme haben, ins eigene Leben zurückzufinden.
Wir haben Frau Stalljann in Bad Schwartau getroffen.
Sabine Baerwald: Liebe Frau Stalljann, vielen Dank, dass wir Sie hier in Bad Schwartau treffen dürfen und dass Sie sich Zeit für ein paar Fragen nehmen. Mitgebracht haben wir – wie immer – den roten Stuhl, auf dem wir Sie in der gewünschten Position fotografieren. Damit kommen wir gleich zur ersten Frage: Warum haben Sie diese Position für das „Foto mit Stuhl“ gewählt?
Inga Maria Stalljann: Ich wähle die Position des ruhigen Sitzens, um mich ganz auf mein Gegenüber einstimmen zu können. Auf dem roten Stuhl könnte die bedürftige Person sitzen, mit der ich spreche.
Sabine Baerwald: Bei Ihrer Arbeit interessiert mich besonders Ihre Arbeit mit Trauerenden. Sie bieten ja auch Kurse für Hinterbliebene an, um ihnen ins Leben zurückzuhelfen. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Kurse anzubieten?
Inga Maria Stalljann: Besonders in den Alten- und Pflegeheimen verfolgte ich häufig den lange währenden Prozess der Abschiednahme. In dieser Zeit dreht sich die gesamte Aufmerksamkeit um den schwerkranken, sterbenden Menschen. Für die Begleitenden ist dies aber ebenfalls ein Kraftakt, in dem eigene Bedürfnisse zurückstehen und sie sich teilweise völlig erschöpfen. Meine Beobachtung war, dass die Begleitenden nicht begleitet werden. Niemand fragt nach ihnen. Ich binde seitdem in den Prozess der Abschiednahme – wenn gewünscht – die gesamte Familie und den Freundeskreis und auch die Haustiere mit ein. Auch diese trauern.
In der Anfangszeit nach dem Tod steht ein Unterstützungsteam aus Familienangehörigen und Freunden, auch Nachbarn zur Verfügung. In der heutigen Zeit gehen die anderen dann sehr schnell zur Tagesordnung über, nach dem Motto, "jetzt muss mal wieder alles gut sein", will heißen "nun werden wir mal wieder alle normal". Das Trauerjahr ist unmodern geworden. Aus dieser Situation entstand neben den Einzelbegleitungen die Idee, Kurse für Betroffene zu geben. Hier dürfen sie an der Stelle ihrer Trauer stehen, an der sie sind. Niemand drängelt.
Sabine Baerwald: Mir erscheint es immer noch so, als wäre der Tod ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Ich stelle mir vor, dass dieses insbesondere für Angehörige problematisch ist. Wo finden diese Menschen Gehör, wenn um sie herum das „normale“ Leben weitergeht?
Inga Maria Stalljann: Erfreulicherweise gibt es in vielen Krankenhäusern Palliativstationen und es gibt Hospize, in denen eine wunderbare menschliche Arbeit getan wird. Niemand zwingt mehr zur Heilung. Es wird gelindert und getröstet, individuell nach Bedarf. Die Ärzte und das Pflegepersonal stellen sich liebevoll dem Thema.
Wie sehr allerdings das Thema Tod in der Gesellschaft außerhalb dieser Bereiche ein Tabuthema ist, zeigt uns die derzeitige Pandemie. Die Wahrscheinlichkeit des Todes kommt in vielen Leben – und nicht nur in jungen Leben – nicht vor. Die "Alles-ist-machbar"-Medizin der Jetztzeit beugt sich nicht in Demut dem Thema Tod. Wenn einem über 90-Jährigen ein Herzschrittmacher, der eine Laufzeit von acht Jahren hat, eingebaut wird, dann spricht dies für sich.
Gehör finden Trauernde häufig bei Menschen, die gleiches erlebt haben. Häufig sind sie erst durch ihre eigene Not zu zu verständnisvollen Zuhörern geworden. Auch gibt es Trauergruppen, privater oder kirchlicher Art. Schwierig ist dies, wenn sehr alte Menschen diese Gruppen aufsuchen, die z. B. schwerhörig sind und niemand auf diese Defizite eingeht. Diese Menschen sind häufig sehr einsam.
Eine Gnade sind Menschen, die unterstützen, wenn das erste und zweite Trauerjahr vergangen sind. Die auch am dritten Todestag noch fragen: "…und wie geht es dir jetzt?"
Sabine Baerwald: Welche „Werkzeuge“ können Sie Angehörigen an die Hand geben, um den Tod eines geliebten Menschen besser in das eigene Leben zu integrieren und sich trotzdem als eigene Person wahrzunehmen?
Inga Maria Stalljann: Hier gilt es zu differenzieren: Eine Möglichkeit der Reaktion ist der Schock. Dies gilt besonders für plötzliche Todesfälle, zum Beispiel bei einem Unfall oder Herzinfarkt. In diesem Zustand "friert" der Mensch ein und ist nicht offen für die Hilfe zur Selbsthilfe. Diese Angehörigen brauchen die helfende Hand von außen und die Aufforderung zur Körperwahrnehmung, um sich selbst zu spüren.
In einem gesunden Trauerprozess erlebt der Angehörige den Zustand der "chaotischen Emotionen", wie Verena Kast ihn beschreibt. Auf abgrundtiefe Verzweiflung kann ein kleines Lächeln erfolgen, zum Beispiel im Kontakt mit einem Kind. Auch Zornesausbrüche über den Verlust gehören in diese Phase. Es ist die Achterbahn der Gefühle, bei der im Verlauf der Zeit die Tiefen an Tiefe abnehmen und die Abstürze seltener werden. In dieser Zeit braucht der Trauernde verstehende Menschen, die ihm zur Seite stehen, die wahrhaftig zuhören, frei von guten Ratschlägen! Der Trauerprozess ist ein individuelles Geschehen, nichts ist richtig oder falsch.
Unterstützend ist hier die Suche nach Ressourcen. Wie hat der Angehörige gelebt, bevor die Ehe oder Lebensgemeinschaft geschlossen wurde. Welche Interessen liegen brach, können reaktiviert werden? Gibt es Menschen, zu denen der Kontakt abgebrochen ist wie zum Beispiel Schulfreunde? Das gemeinsame Erstellen eines praktischen Notfall-Planes: Wer hilft, wenn die Heizung defekt ist, wer hilft bei technischen Problemen, wie heißt unser Installateur, wie unser Elektriker, wie handle ich im Fall X.
Bei einer prolongierten (verlängerten) Trauer bleibt der Zurückgebliebene in seinem Entwicklungsprozess stecken. Die großen "Aufs" und "Abs" finden nicht statt. Es kommt zu einer jahrelangen depressiven Verstimmung bis hin zur Depression. Diese Phase ist behandlungsbedürftig durch ärztlichen Beistand, psychologische Betreuung oder eine(n) Heilpraktiker*in.
In allen drei Fällen ist es wichtig, die Trauernden in die Körperwahrnehmung zu führen. In Form von Badewanne, einer Massage, Wanderstiefel bis hin zum gemeinsamen Singen. Sobald die Aufmerksamkeit aktiv auf den Körper gerichtet ist – durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen – unterbricht dies den seelischen Schmerz.
Sabine Baerwald: Die klassische Bestattung im Sarg wird immer weniger – der Friedhof ist oftmals nicht mehr Ort der Trauer. Wie kann da eine lebendige Erinnerungskultur entstehen? Gerade in unserer schnelllebigen Zeit…
Inga Maria Stalljann: Ich persönlich halte einen Ort des Abschieds für wichtig. Einen Ort, der das Ende dieses Lebens anzeigt. Immer wieder erlebe ich Angehörige, die nach einer Seebestattung bedauern, dass sie keinen festen Platz haben, an dem sie Zwiesprache mit dem Verstorbenen halten können. Dieses Verlangen stellt sich nach einiger Zeit ein.
Erinnert wird der Verstorbene durch geteilte Erzählungen vieler, bei einem Familienfest oder im Freundeskreis. Durch die großen und kleinen Dinge – aus dem Vermächtnis. ("Diese Kette schenkte mir meine Lieblingstante" – "Dieses Holzkästchen baute ich mit meinem Großvater." – "Diese Bild malte meine Freundin.") Dies sind Anker, die in die Vergangenheit reichen.
Sabine Baerwald: Wie wichtig ist das Erinnern für den Trauerprozess?
Inga Maria Stalljann: Der Trauerprozess bedeutet eine Interaktion mit dem Verstorbenen. Gemeinsam Erlebtes wird alleine oder gemeinsam mit anderen reflektiert, eine Rückschau wird gehalten. Für eine gesunde Verarbeitung ist diese Betrachtung der Vergangenheit wichtig. Das Gewesene will in die Jetztzeit integriert werden. Die Erinnerungen geschehen nicht immer willentlich. Ein Lied, ein gemeinsam besuchter Ort, ein Duft, ein Baum – all diese Dinge können die Erinnerungen ins Bewusstsein hochspülen. Ohne Erinnerung kein Trauerprozess, ohne Trauerprozess keine Reife.
Sabine Baerwald: Liebe Frau Stalljann, vielen Dank für dieses Gespräch.